Dehnen nach dem Sport? – Static Stretching – Range of Motion ROM

Pascal Pape

Dehnen vor oder nach dem Sport?

Wir alle haben es als Kinder so gelernt: Sich vor dem Sport fleißig zu dehnen und zu stretchen, ist das beste Aufwärmtraining. Halten Sie sich noch brav an diese Regeln? Dann herzlichen Glückwunsch, Sie haben Ihre Zeit und Energie verschwendet.

Wir von DR LICO, haben uns mit dem Dehnen und Stretching beschäftigt. Was wissenschaftliche Studien zum Dehnen nach dem Sport ergeben haben, ob das Verletzungsrisiko durch Dehnübungen sinkt und welche Auswirkungen Dehnen vor dem Sport auf unsere Leistung und unser Training hat.

In diesem Artikel analysieren wir statische Dehnübungen (ohne Bewegung, engl.: static stretching / SS) und ihre Auswirkungen auf sportliche Aktivitäten und Performance.

Statische Dehnübungen / Static Stretching  – Klären wir zunächst den Begriff

Die statischen Dehnübungen / Static Stretching definieren sich als stationäre Übungen, ohne jegliche Bewegung während der Durchführung. Als Klassiker ist wohl die Dehnübung Finger-zu-den-Zehen am bekanntesten, wie es auch der frustrierte Hobbysportler unseres Titelbildes versucht. Das statische Dehnen besagte früher, dass man möglichst viel Spannung und Dehnung der Muskulatur, für mindestens 20 Sekunden aufrecht erhalten muss. Jegliche Dehnübung unterhalb der 20-Sekunden-Grenze galt, vor einigen Jahren noch als sinnlos. Beim Static Stretching erhöht sich die sogenannte ROM oder Range of Motion, deshalb ging man lange Zeit davon aus, dass Dehnübungen vor dem Sport das Verletzungsrisiko senken.

Was ist ROM / Range of Motion?

ROM oder Range of Motion bezeichnet die Bewegungsamplitude der Gelenke. Diese Amplitude gibt maßgeblich die Beweglichkeit eines Menschen vor. Durch Dehnübungen lässt sich die Range of Motion bis zu Ihrem Maximum erhöhen. Als Beispiel: Die maximale Range of Motion des Schultergelenks, in eine Richtung, beträgt ungefähr 90°, was dem Anheben unseres Arms auf Schulterhöhe entspricht. Durch zusätzlichen Einsatz des Schultergürtelgelenks erhalten wir eine ROM von rund 180°, was dem Anheben des gestreckten Arms Richtung Himmel entspricht.

Viele Sportler sind nicht in der Lage Ihre gesamte ROM zu nutzen, im Volksmund spricht man hierbei von Verkürzungen. Jedoch werden bei den Dehnübungen die Muskeln nicht, wie oftmals angenommen, gedehnt. Denn Muskeln lassen sich nicht strecken oder dehnen. Dehnübungen führen lediglich dazu, dass der Sportler „Spannungen und Schmerzen besser erträgt“. (Sportwissenschaftler Kai Wellmann, mit Sportmediziner Prof. Dr. Klaus-Michael Braumann)

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Dehnen vor dem Sport  – Sinkt das Verletzungsrisiko?

Nein, das kann man als Mythos bezeichnen. Die Auswirkungen von Dehnübungen, auf das Verletzungsrisiko, ist im normalen Sport oder Training vernachlässigbar gering. Es wurden zahlreiche Studien zu dem Thema Dehnen veröffentlicht, die belegen, dass Dehnübungen vor dem Sport, nahezu keine Auswirkungen auf die Verletzungswahrscheinlichkeit haben. Dehnen vor dem Sport macht lediglich in wenigen Ausnahmefällen Sinn, in denen eine sehr hohe Flexibilität gefordert wird. Eine Beispielsportart hierfür ist das Turnen. Doch selbst in diesen Ausnahmefällen ist das Dehnen vor dem Sport, in erster Linie für Leistungssportler und Profi-Athleten ratsam. Denn Dehnübungen erhöhen zwar die Range of Motion, verringern jedoch gleichzeitig die Muskelkraft. (Beispielstudien: Fields et al. 2007, Fowles et al. 2000, Kokkonen et al. 1998)

Dehnübungen vor dem Sport verringern die Muskelkraft?

Aktuelle Studien sind eindeutig in ihrer Aussage, dass statisches Dehnen die Stabilität und die Leistungskapazität der Muskeln reduziert und damit kontraproduktiv für sportliche Aktivitäten ist. So wird die Sprunghöhe beim Springen verringert oder die Schnelligkeit beim Laufen reduziert. Die Untersuchungen und Studien haben ergeben, dass statische Dehnübungen vor dem Sport die Muskelkraft, für ungefähr eine Stunde lang reduzieren. So hat zum Beispiel die Universität von Zagreb verschiedene Leistungen von Sportler untersucht und abhängig vom jeweiligem Aufwärmtraining, oder Dehnübungen vor dem Sport, haben sich unterschiedliche Resultate ergeben. Die teilnehmenden Sportler wurden beim Springen, Dunken, Sprinten, Gewichtheben oder anderen Übungen zur Messung der muskulären Stärke und Kraft untersucht.

Nach Aussage der Studien reduzieren Dehnübungen die Muskelkraft des gedehnten Muskels um rund 5,5%, wobei die Auswirkungen bei längeren einzelnen Dehnintervallen zunimmt. Bei kürzeren Dehnintervallen ist die Auswirkung der Muskelschwächung entsprechend niedriger. So macht es nochmals einen deutlichen Unterschied, ob die Länge der einzelnen Dehnübungen unter 45 Sekunden, über 45 Sekunden, oder gar über 90 Sekunden liegt.

Bei einer Studie, in der die Analyse an Kniebeugen, mit entsprechenden Gewichten erfolgte, konnte man noch präzisere Messungen erreichen. Hier wurde penibel das gestemmte Gewicht gemessen, was uns eine gute Aussage, über den Nachlass der Muskelkapazität liefert. Nach Dehnübungen vor dem Training, lag das gestemmte Gewicht rund 8,3% niedriger, als es die Sportler erzielten, wenn sie auf das Dehnen vor dem Training verzichteteten. (Beispielstudien: J Strength Cond Res. 2013, Scand J Med Sci Sports 2013)

Dehnen ist folglich schädlich und kontraproduktiv, insbesondere vor dem Sport?

Nein, schädlich ist das Dehnen nicht. Und Kontraproduktiv ist es lediglich unmittelbar vor dem Sport. Dehnen nach dem Sport hat kaum negative Auswirkungen, da es den Muskel schlicht zusätzlich belastet. Die Studien belegen lediglich die unmittelbare Belastung, des Muskels durch Dehnübungen. Dehnen wirkt auf unsere Muskel ähnlich wie auf ein Gummiband, das an Spannung verliert, sobald wir viel Zug ausüben. Jedoch regeneriert sich unser Muskel wieder. Wer sich jedoch vom Dehnen einen positiven Effekt auf sein Training erhofft und sich deshalb zu jeder einzelnen Dehnübung zwingen muss, der kann sich jetzt beruhigt zurücklehnen und aufatmen. Wer dagegen Spaß am Dehnen hat, oder sich damit wohler fühlt, der darf sich selbstverständlich auch ohne Sorgen weiterhin Dehnen. Vor dem Muskeltraining, oder gar vor einem HIT Training, rate ich jedoch von Dehnübungen ab. Wer seine vollständige muskuläre Leistung abrufen will, der sollte auch auf das Dehnen verzichten.

Ist statisches Dehnen nach dem Sport besser?

Dehnen sollten Sie sich besser nach dem Sport oder idealerweise unabhängig vom Training. Dehnen nach dem Sport hat, laut einigen Studien, einen minimal positiven Effekt auf den Muskelkater. Außerdem erhöhen Sie natürlich Ihre Range of Motion / Bewegungsamplitude, ohne unter den negativen Folgen der Dehnübungen zu leiden. Langfristig sind Dehnübungen für jeden Sportler oder Athleten sinnvoll. Ob sich Dehnen nach dem Sport lindernd auf den bevorstehenden Muskelkater auswirkt, ist auch noch strittig und die gemessene Auswirkung in Studien ist ahezu vernachlässigbar. Aus psychischer Sicht kann es dennoch heilend wirken. Wer Spaß an Dehnübungen hat, der darf sich natürlich auch weiterhin Dehnen. Für wen es dagegen eine Qual ist, der kann auch darauf verzichten.

Das Einzige, was man im Hinterkopf behalten sollte, ist dass Dehnübungen den gedehnten Muskel beanspruchen und belasten. Man kann also Dehnübungen als weiteres Trainingsintervall ansehen. Wer sich bereits beim Sport bis zur Erschöpfung verausgabt hat, dem rate ich auf die Dehnübungen nach dem Training zu verzichten. Deshalb liegt der perfekte Zeitpunkt, zum Dehnen der Muskulatur, unabhängig vom Sport und mit idealerweise 1-2 Stunden Abstand zum Training.

Richtig Dehnen: Wie sehen richtige Dehnübungen aus?

Langanhaltende Dehn-Intervalle sind unnötig und gehören der Vergangenheit an. Das lange statische Dehnen, wie es viele von uns gelernt haben, hat mehr negative Effekte, als positive. Besser ist es kurz Intervalle, von nur wenigen Sekunden durchzuführen. Zwischen den einzlenen Dehnübungen locker lassen und entspannen. Dann erneut für wenige Sekunden dehnen. Starke Schmerzen sind auch überflüssig, eine leichte Spannung ist bereits ausreichend. Vor dem Sport empfehle ich ein Aufwärmtraining. Idealerweise führen Sie im Aufwärmtraining die Bewegungsmuster aus, die Sie im Nachhinein im Training benötigen und anwenden wollen.

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